Betroffene von Stalking verstehen & unterstützen
InterviewFragst du dich, welche Folgen Stalking-Handlungen auf Betroffene haben? Möchtest du wissen, wie du eine dir nahestehende Person achtsam auf dieses Thema ansprechen kannst? Oder suchst du nach Möglichkeiten, deine Selbstwirksamkeit und dein Wohlbefinden nach Stalking wiederzuerlangen? In diesem Interview spricht Sandra Cegla, Kriminalkommissarin a. D. und Gründerin von SOS-Stalking, von der Perspektive von Stalking betroffener Menschen und gibt Tipps, was ihnen und Nahestehenden helfen kann.
In diesem Gespräch werden Täter:innen oft in männlicher und Betroffene in weiblicher Form angesprochen. Trotzdem gilt: Jedes Geschlecht kann sowohl Täter:in, als auch Opfer sein – alle Kombinationen sind möglich.
Was macht Stalking konkret mit Betroffenen?
Also zum einen - da hatten wir ja bereits darüber gesprochen - haben Traumaforscher:innen herausgefunden, dass Stalking den gleichen Stress auslöst wie das Überleben eines Flugzeugabsturzes. Und das alleine ist ein Indikator, der total für sich spricht. Da braucht man eigentlich nichts hinzuzufügen, denn man weiß, dass das so einen großen Stress für die Betroffenen macht, der mindestens gesundheitsschädlich ist. Gerade über Wochen, Monate oder sogar Jahre hat das wirklich langfristige Folgen und zieht massive gesundheitliche Folgen nach sich: Angstzustände, Paranoia, Albträume, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Schwierigkeiten, etc. Die Bandbreite gibt komplett alles her. Und das kann sogar auch lebensbedrohliche Krankheiten auslösen, weil dieses hohe Level an Stress, das können wir ja einfach medizinisch feststellen, auch wenn wir es von außen oft nicht ablesen können. Das macht wirklich krank. Deshalb dürfen wir die Folgen von Stalking niemals unterschätzen.
Sind das sowohl die Folgen, die während des stalkenden Verhaltens auftreten, oder bleiben diese teilweise auch nach dem Stalking bestehen?
Beides. Normalerweise empfinden die Betroffenen natürlich während des Stalkings diesen Stress, genauso wie eine sehr große Bedrohlichkeit. Sie wissen: „Da ist mir jemand auf den Fersen, er hat sich auf mich fixiert und wird nicht loslassen, bis er mir wirklich was angetan hat.” Und viele Stalker kündigen das ja auch an, die sagen: „Du wirst ohne mich nicht mehr glücklich. Ich mache dich kaputt. Ich töte dich.” Für die Betroffenen ist klar: „Das ist ernst. Der will mir nicht nur Angst machen bzw. das ist hier kein Witz, sondern er hat es wirklich auf mich abgesehen. Und es ist sein Antrieb, mein Leben kaputtzumachen – was auch immer das heißt.” Die Betroffenen empfinden das. Und das ist das, was auch wirklich schlimm für die Betroffenen ist. Und auf der anderen Seite hat das auch ganz schlimme Folgen für die Seele. Das heißt, sie bekommen wirklich Angstzustände und sagen: „Ich fühle mich richtig paranoid.” Sie bekommen auch ein großes Misstrauen, was Bindungen angeht: „Leute, die nett auf mich zu gehen - sind die wirklich nett oder sind sie irgendwie vom Täter geschickt und sollen mich aushorchen?” Sie bekommen wirklich so einen paranoiden Blick auf die Welt und auf die Menschen. Und das ist eigentlich das Schlimmste, was passieren kann, wenn ich mich nicht mehr vertrauensvoll in Bindungen hineinbegeben kann und ein gutes soziales Umfeld um mich herum habe, was mich und meine Seele ja auch schützt. Wir sind soziale Wesen, wir brauchen Bindungen, wir brauchen das Gefühl von Zugehörigkeit, Liebe und Anerkennung. Und was wir aber auch immer wieder feststellen ist, dass zum einen kurzfristige Folgen da sind, zum anderen haben sie meistens sogar auch langfristige Folgen. Manche Betroffene werden durch das Stalking so krank, dass sie nicht wieder gesund werden können. Auf der anderen Seite ist es so, dass wir immer wieder auch die Erfahrung machen, dass Betroffene, die lange gestalkt wurden und das Stalking dann endlich aufhört – während des Stalkings haben sie die ganze Zeit gesagt: „Ich wünsche mir nichts mehr, dass es aufhört, damit ich durchatmen kann, damit ich wieder in Ruhe leben kann, damit einfach wieder alles schön ist.” Das Gegenteil ist aber der Fall, denn das Leben nach Stalking ist nicht das Leben wie vor Stalking. Danach ist einfach nichts mehr so, wie es mal war. Und danach kommen meistens erst wirklich die Symptome raus. Manchmal oder in vielen Fällen hat Stalking wirklich traumatisierende Qualität. Die Betroffenen bekommen danach erst die ganzen Symptome, bekommen dann richtig schlimme Albträume, obwohl es eigentlich vorbei ist und sie sich entspannen können. Und endlich das erträumte Leben leben können. Dann passiert aber genau das Andere: Sie bekommen dann erst Ängste. Sie haben natürlich Angst, dass doch wieder irgendwas ist und der Täter wieder anfangen könnte. Sie haben oft vielleicht sogar ihre Bindungsfähigkeit verloren, sodass es sehr schwierig wird, sich wieder vertrauensvoll in eine neue Partnerschaft reinzugeben. Und das sind dann oft die Langzeitfolgen, die erst nach dem Stalking sichtbar werden. Und wo die Betroffenen nach dem Stalking sogar mehr leiden als während des Stalkings.
Ich kann mir vorstellen, dass das mit einem großen allgemeinen Vertrauensverlust einhergeht, oder?
Ja. In Bindungen, ins Leben, ins Helfersystem. Und natürlich auch in sich selbst. Stalking hat viel mit Manipulation und unterschiedlichen Wahrnehmungen zu tun. Und die Betroffenen sagen auch: „Ich weiß gar nicht mehr, was richtig ist. Ich bin so verwirrt.”
Betroffene merken ja meistens selber, dass es ihnen nicht gut geht. Und auch teilweise schon, dass sie sich bedroht fühlen oder dass gewisse Handlungen schon ausgeübt wurden, die vielleicht sogar Stalking sind. Wieso ist es trotzdem so schwer und gleichzeitig so wichtig, nach Hilfe zu fragen?
Es ist zum einen sehr schwierig, nach Hilfe zu fragen, weil die Betroffenen das noch gar nicht so klar haben: Ist es denn wirklich Stalking? Ist es kein Stalking? Das ist etwas, das sehr schwierig ist. Um es überhaupt als Stalking zu benennen, muss es den Betroffenen erstmal klar sein. Dieser Prozess kann schon länger dauern. Zum anderen wirkt Stalking von außen sehr oft sehr harmlos. Wie es sich anfühlt, wenn mir jemand permanent schreibt oder bedrohliche Inhalte an mich schreibt: Ich als Betroffene merke das sofort. Aber wie kann ich das meiner besten Freundin oder dem Polizeibeamten klar machen, wie sehr mich das bedroht? Das ist von außen ganz schwer nachvollziehbar, wenn man es noch nie selbst erlebt hat. Die Betroffenen empfinden die Bedrohlichkeit, die empfinden auch den Stress. Der ist aber von außen schwer ablesbar. Und viele Menschen im Umfeld der Betroffenen empfinden es einfach nicht, d.h. sie haben das Gefühl: Es ist so schwer, mich deutlich zu machen. Oder sie bekommen auch gespiegelt: „Naja, hab dich doch nicht so, also die drei Anrufe am Tag …” Aber ein Anruf mit bestimmten bedrohlichen Inhalten reicht aus, dass ich mir wochenlang Sorgen mache. Und das ist aber schwer, dem eigenen Umfeld mitzuteilen und oft ist es so, dass die Betroffenen einfach gespiegelt bekommen, dass es nicht so schlimm sei oder sie sich nicht so anstellen sollen. Das macht es für die Betroffenen sehr schwer, sich dann auch Hilfe zu holen, weil wir grundsätzlich noch in einem gesellschaftlichen Bewusstsein leben, was Stalking noch nicht so richtig ernst nimmt. Also, in der breiten Masse ist es noch nicht angekommen, was Stalking wirklich für die Betroffenen bedeutet. Das heißt die Wahrscheinlichkeit, auf Menschen zu treffen, die damit nicht viel anfangen können oder die emotional damit nicht in Resonanz gehen und mir irgendwie das Gefühl geben, dass ich übertreibe, das macht sehr viel aus und das bekommen wir total oft berichtet. Dieses: „Ich weiß einfach nicht, ob ich übertreibe, soll ich mir wirklich Hilfe holen? Es gibt Menschen, denen geht es viel schlechter als mir.” Wenn mir so viele Menschen spiegeln, dass ich übertreibe (selbst wenn sie es nicht genau so aussprechen), dann fällt es umso schwerer, Hilfe zu holen.
Du hast im Prinzip zwei Probleme angesprochen: Wie ich anderen schildern kann, wie es mir geht, wie die Situation tatsächlich aussieht. Und auf der anderen Seite die Außenreaktion. Was wäre das Best-Practice-Szenario sowohl für Außenstehende als auch für mich als betroffene Person?
Best Practice wäre, dass ich mir als Betroffene mir schon bewusst mache: Oh, da passiert irgendwas. Und gerade mein Zweifel an meiner Wahrnehmung, meine Schuld- und Schamgefühle und überhaupt dieses Gefühl von Paranoia. Das sind alles ganz klare Hinweise, dass hier Straftaten passieren. Und das nehme ich ernst. Erstmal für mich selbst. Vollkommen unabhängig davon, ob meine beste Freundin sagt: „Ich kann das nicht ganz nachvollziehen.” Oder ob meine Familie damit nicht umgehen kann. Wie auch immer. Und ob vielleicht sogar Autoritäten wie z.B. die Polizei das emotional nicht ganz nachvollziehen können. Ich bleibe bei mir, ich weiß, was meine Wahrnehmung ist und ich weiß, dass ich mich verändert habe und das könnte mit diesem Menschen zu tun haben. Das nehme ich jetzt ernst. Das bin ich mir wert, dass ich das ernst nehme, egal, was alle anderen sagen.
Und wenn ich dann mit anderen darüber spreche, dann ist es natürlich Best Practice für das Umfeld zu sagen: Oh, ich kann es vielleicht nicht ganz nachvollziehen, weil ich selber sowas in der Art noch nicht empfunden habe, oder sowas noch nicht erlebt habe. Aber ich bin offen dafür und ich sehe, dass du gerade leidest. Das nehme ich wahr und deswegen nehme ich es auch ernst. Völlig egal, ob wir es hinterher Stalking oder Straftat nennen. Oder ob vielleicht was ganz anderes dahintersteckt. In jedem Fall hast du das Recht, dich jetzt gerade schlecht zu fühlen und ich gebe dir meine Unterstützung. Das heißt: Ich höre dir zu, ich hinterfrage wohlwollend (z.B. „Ah, ich habe das noch nicht verstanden, erkläre es mir doch nochmal. Wie ist es genau für dich? Erkläre mir nochmal genau, wie es sich anfühlt. Was genau beunruhigt dich denn so?”). Und dann wirklich zuhören – nicht unterbrechen – zuhören. Anerkennen. Ich erkenne deine Welt an. Egal ob ich sie gerade verstehe und egal, ob es meiner Welt entspricht. Und egal, wie ich den Fall von außen einschätzen würde. Ich erkenne aber zu 100 % deine Welt an und ich gebe dir meine Rückmeldung im Sinne von: „Stimmt, ich habe auch bemerkt, dass du dich verändert hast.” In manchen Fällen ist es auch so, dass besonders die Betroffenen das noch nicht so wahrnehmen. Gerade jetzt, wenn es vielleicht schon häusliche Gewalt gegeben hat, dann schämen sich die Betroffenen sehr und haben sich auch schon aus sozialen Bindungen zurückgezogen, weil sie sich so schämen. Und ich als beste Freundin bin eigentlich gekränkt, weil: Sie meldet sich nicht mehr zurück. Wir können nicht mehr Eis essen gehen. Wir haben bestimmte Rituale nicht mehr, die wir immer hatten. Eigentlich bin ich ein bisschen sauer. Trotzdem ist mir aber klar, dass sie in einer Situation ist, die vielleicht eine Not in sich birgt. Gerade jetzt ist es meine Aufgabe oder Pflicht, als beste Freundin gerade jetzt zur Seite zu stehen – egal ob ich gerade gekränkt bin oder nicht. Das heißt, ich nehme es nicht persönlich und stelle ihr einfach die Frage: „Sag mal, wie geht es dir?” Und sobald sie auch nur ein Minimum an Offenheit signalisiert, im Sinne von: „Ich rede zwar nicht so gerne darüber, aber lass uns doch mal telefonieren, ich möchte mit dir sprechen.” Dann auch wirklich zuhören, ins Detail gehen und die eigene Kränkung so ein bisschen außen vor lassen. Die kann später besprochen werden, wenn vielleicht diese akute Situation gar nicht mehr da ist. Meine Aufgabe als gute Freundin, Partner:in, Familienmitglied ist, erstmal zuzuhören und einfach zu verstehen: Hat das wirklich mit mir bzw. uns beiden zu tun? Gab es zwischen uns irgendetwas, was dazu geführt hat, dass sie sich von mir zurückgezogen hat? Oder hat das wirklich komplett andere Gründe, Gründe, die komplett außerhalb meiner Person und außerhalb unserer Bindung liegen?
Das ist so ein wesentlicher Kernpunkt, dass sich gerade Betroffene aus Bindungen zurückziehen und die Menschen drumherum sehr gekränkt sind, weil sie sich natürlich die Frage stellen: Warum meldet sie sich denn nicht mehr? Warum geht sie auf meine Kontaktversuche nicht mehr ein? Und sie druckst herum und trifft sich nicht. Oder wir kommen nicht mehr zum Punkt. Sie vermeidet mich einfach. Und das kränkt. Zurecht. Aber wir sollten anerkennen: Irgendwas ist komisch. Und bevor ich mich zurecht gekränkt fühle, weil wirklich etwas im Raum steht, sollte ich neutral hinterfragen und ihr die Hand reichen und sagen: „Komm, lass uns in Ruhe sprechen. Ich möchte verstehen, wo du gerade stehst und wie es dir gerade geht.” Und wenn ich dann mitkriege, dass etwas Schlimmes im Spiel ist, dann sollte ich ihr unbedingt zur Seite stehen. Dann geht es erstmal nicht um persönliche Kränkung und um persönliche Befindlichkeiten. Und darum, die Bindung zueinander aufzuarbeiten. Es geht jetzt darum, ihr zur Seite zu stehen und festzustellen, ob sie in Gefahr ist.
Ist das im Prinzip schon die beste Unterstützung, die Nahestehende geben können?
Ja, auf jeden Fall. Emotionaler Beistand, Dasein, Handreichen und Ernstnehmen. Also wirklich die Notsituation immer ernst zu nehmen, das ist total wichtig vom Umfeld. Und auch die Fälle, in denen die Betroffene beispielsweise in einer schwierigen Situation sitzt, die sie für sich selbst nicht ernst bzw. wahrnimmt, sondern eher banalisiert und versucht, zu verstecken. Genau da ist es total wichtig: „Oh, ich mache mir Sorgen. Ich beobachte Dinge, die nicht in Ordnung sind.” Um auch den Bewusstseinsprozess bei der Betroffenen anzuregen. Und hier ist es auch sehr wichtig, keinen Druck auszuüben. Das einfach zu spiegeln bzw. festzustellen aus der ganz persönlichen, eigenen Perspektive. Und die Betroffene entscheidet aber selbst, zu welchem Zeitpunkt sie bereit ist, Hilfe anzunehmen. Und zu welchem Zeitpunkt sie wo in ihrem Bewusstseinsprozess steht.
Gehen wir noch einmal zu den Betroffenen zurück: Wie kann ich nach dieser wirklich schweren Phase meine Selbstwirksamkeit und mein Wohlbefinden wieder stärken?
Während des Stalking rate ich schon immer dazu – also gerade während wir dann auch unsere Klient:innen begleiten – ich rate schon von Anfang an immer dazu, weiterhin alles zu tun, was sie stärkt. Und das sollte man so früh wie möglich beginnen, am besten schon während des Stalkings. Oft ist es so, dass man sich doch so belastet fühlt, dass man eigentlich auf nichts Lust hat, weil man die ganze Zeit Angst hat und die Gedanken kreisen um die Gerichtsverfahren. Und gerade jetzt ist es so wichtig, Dinge zu tun, die mir eigentlich guttun. Also zu meditieren, Yoga zu machen, Joggen zu gehen, Selbstverteidigungskurs, im Gespräch mit Freund:innen bleiben. Also alles zu tun, was mir normalerweise Halt und Kraft gibt. Und wenn ich in dem Moment keine Lust dazu habe, ist es trotzdem wichtig, bestimmte Rituale in den Alltag einzubauen und zu sagen: „Bestimmte Dinge mache ich einfach für mich, weil das meine Seele immer stärkt, wenn ich in die Natur gehe, Yoga machen, mich mit Tieren umgebe, usw.” Ich kenne mich selber ja am besten. Ich plane das jetzt einfach ein. Das ist für mich jetzt Routine. Und das wird langfristig meine Seele einfach wieder stärken. Und ich werde irgendwann aus dem Stresslevel wieder rauskommen. Und besonders dann, wenn vielleicht dann auch die Stalking-Situation beendet ist und ich auch nicht mehr in einer akuten Gefahr bin – man muss es sich natürlich immer im Einzelfall genauer anschauen – aber ich halte grundsätzlich nicht viel davon, sich zu verstecken, sich zurückzuziehen und aus Angst, der Täter könnte jede meiner Handlungen negativ aufgreifen und attackieren, bombardieren und es könnten sich wieder negative Konsequenzen für mich ergeben. Ich würde sagen, es ist ganz, ganz wichtig, einfach bei sich zu bleiben und weiterhin auch sein Leben zu leben. In dem Moment, wo ich mich zurückziehe, nehme ich mir selber Kraft, weil ich mich nicht mehr ausagiere, weil ich meiner Seele keinen Raum mehr geben kann. Weil ich Dinge, die mir Kraft geben, einfach nicht mehr tue. Weil ich nicht mehr dazulerne, sondern ich gehe einen Schritt zurück. Dadurch nehme ich mir Kraft genauso wie Schutz. Menschen, die sich von mir abwenden, die können mich nicht mehr beschützen. Und deswegen rate ich immer dazu – auch wenn es Konfrontation mit dem Täter bedeuten sollte – im eigenen Leben und in der eigenen Seele immer drin zu bleiben. Meine Talente immer auszuüben, auch wenn ich gerade nicht im besten Mindset bin. Trotzdem, den Kurs anzufangen, den ich gebucht habe, ich fange einfach an. Und wenn ich scheitere (im Sinne von nicht abschließen), mache ich ihn danach einfach nochmal, aber ich mache ihn trotzdem, weil ich mich dafür entschieden hatte und ich mich aus Prinzip nicht von dem Täter und vom Stalking nicht von meinem Leben abhalten möchte. Es gibt Einzelfälle, wo wir dann auch als Sicherheitsagentur sagen: Es gibt Dinge, die sind sehr gefährlich, die würden wir wirklich nicht mehr machen. Da machen wir dann auch Risikoanalysen. Aber wenn ich nicht Angst haben muss, dass der Täter mich tötet, dann sollte man unbedingt alles weitermachen. Denn alles, was meine Seele, Persönlichkeit und mein Weiterkommen stärkt, das wird mich langfristig auch immun machen gegen die ganzen negativen Konsequenzen von Stalking. Also unbedingt den eigenen Lebensweg weitergehen. Unbedingt. Und wir haben tatsächlich auch mindestens mit einer Kundin schon mal gesprochen. Als sie mir das erzählt hat, habe ich wirklich Gänsehaut bekommen. Sie hat gesagt: „Ich habe mich so lange versteckt und habe versucht, dem Täter alles Recht zu machen. Und ich habe plötzlich angefangen, mein ganzes Leben und jeden einzelnen Schritt, den ich mache, zu hinterfragen. Und dann gab es den einen Moment, an dem mir alles so egal war. Es ist mein Leben und mein Leben ist kurz. Wieso lasse ich mich eigentlich von irgendeiner anderen Person einschränken?” Und dann ist sie ins genaue Gegenteil umgeschwenkt und hatte wirklich diesen Egal-Moment: „Soll er doch sehen, soll er doch kommen, ist mir egal.” Und er hatte sie permanent überwacht. Er hat ständig auch vor ihrer Wohnung gestanden, die gut einsehbar war. Er konnte quasi auch immer genau sehen, wann Licht bei ihr brennt, weil es ein sehr kleiner Kontext in einer kleinen Stadt war, wer zu Besuch ist, welches Auto dasteht, welches Kennzeichen, usw. Und er hat ihr das immer rückgemeldet: „Ich sehe dich gerade, ich weiß, wie lange du nachts wach warst.” Das hat sie in Angst und Schrecken versetzt, weil sie sich wirklich bedroht gefühlt hat. Und dann ist sie in das Gegenteil gekommen: „Jetzt stelle ich erst recht Flaschen ins Fenster, damit er sieht oder denkt: Ich trinke Alkohol. Extra zwei Gläser hingestellt, damit er denkt, da ist eine zweite Person. Ich sage extra allen Leuten Bescheid, die zu Besuch kommen, sie sollen direkt vor dem Haus parken und einfach reinkommen. Soll er doch sehen: Ich hab keine Angst mehr. Ich hab keine Angst mehr.” Und irgendwie hat er das gespürt, dass er sie nicht mehr in Angst und Schrecken versetzen kann. Und, dass er sich von ihrer Angst nicht mehr ernähren kann. Und sie meinte – es war natürlich nicht sofort – es hat sich danach sofort etwas verändert und er hat step by step von ihr abgelassen. Und das fand ich – das klappt nicht in jedem Fall – deswegen muss man immer jeden Einzelfall individuell anschauen – aber dieser Fall hat mich so beeindruckt und berührt, weil es ganz viel mit ihrer inneren Haltung zu tun hatte: „Jetzt erst recht! Was fällt ihm denn ein? Und jetzt mache ich erst recht alles, was mir gefällt.” Und das hat in ihrem Fall zumindest den einen Effekt, dass der Täter über Wochen dann von ihr abgelassen hat, das war mega. Und zum anderen hat es aber auch den Erfolg, dass sie gesagt hat: „Ich bin wieder ich. Ich bin wieder ich. Ich gehe jetzt raus, treffe meine Freund:innen. Ich lasse mich einfach von nichts unterkriegen. Ich habe das Recht. Wer ist er denn, dass er mir erzählt, was ich tun und lassen soll. Und dass er mich wie ein kleines Kind überwacht. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich ziehe zwei Kinder groß. Ich gehe arbeiten. Ich stehe mit beiden Beinen im Leben. Ich habe ein Recht auf alles und ich nehme mir jetzt mein Leben wieder zurück, das ist meins.” Das hat mich sehr beeindruckt. Und dazu lade ich jede Frau ein.
Hast du die in diesem Interview besprochenen Erfahrungen in gleicher oder ähnlicher Form selbst gemacht – oder kennst eine akut betroffene Person? Dann wende dich gerne an die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen oder eine Beratungsstelle. Auf beiden Wegen kannst du dich jemandem (anonym) anvertrauen und Unterstützung finden.
Nun hast du ein paar Einblicke in die Perspektive von Stalking betroffener Menschen erhalten und auf die Auswirkungen, die Stalking auf sie haben kann. Wenn du mehr rund um das Thema Stalking wissen möchtest, z.B. was du präventiv tun kannst oder wie Stalking am Arbeitsplatz aussehen kann, dann informiere dich weitergehend in den Interviews hier in der Mediathek.
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.
Wähle eine Sprache aus
Hinweis zur Verwendung von Cookies
Diese Website verwendet nur notwendige Cookies, die keine personenbezogenen Daten enthalten. Details findest du in unserem Datenschutzhinweis.
Mit einem Klick auf "Zum Angebot" akzeptierst du unsere Nutzungsbedingungen.